Sonntag, 21. September 2014

Was ist ein Gruppenantrieb oder Neutralschieber, und wie funktioniert er?: "Logisches Oder auf mechanisch"

Eine Frage in einem Modellbahnforum hat mich dazu bewogen, endlich einmal kurz zu erklären, wozu man einen Gruppenverschluss oder Gruppenantrieb (so heißen die Ausführungen für verschiedene Zwecke im deutschen Einheitsstellwerk) oder Neutralschieber (so heißt die entsprechende Mechanik in den österreichischen Bauarten 5007 und SBW500) braucht und wie so etwas funktioniert.

Zuerst eine kurze Erklärung eines Problems, das gelöst werden soll:

Ein Bahnhof soll mehrere (mindestens drei) Gleise haben, in die auf dieselbe Signalstellung eingefahren werden soll. Das ist natürlich typisch für alle die Bahnhöfe, wo in mindestens drei Hauptgleise auf ein zweiflügelig freistehendes Einfahrsignal eingefahren werden können soll – also z.B. praktisch alle Bahnhöfe an eingleisigen Strecken mit mehr als drei Hauptgleisen. Das Problem ist nun, dass diese Fahrstraßen auf mindestens zwei Fahrstraßenschubstangen gelegt werden müssen (jede Fahrstraßenschubstange kann maximal zwei Fahrstraßen sichern, eine durch Verschieben nach links, die andere durch Verschieben nach rechts). Das Signal muss also freigegeben werden, wenn die erste oder die zweite (oder die dritte usw.) Schubstange verschoben ist – daher muss hier das Problem gelöst werden, eine "mechanische Oder-Operation" zu konstruieren.

Das Problem geht aber darüber hinaus, weil eine weitere Forderung erfüllt werden muss, nämlich: Wenn eine der Fahrstraßenschubstangen verschoben ist, dann muss sie vom freigestellten Signal auch in ihrer Stellung festgehalten werden. Das ist nötig, um die gesetzlich geforderte Signalabhängigkeit zu erreichen: Das freistehende Signal muss die Fahrstraßenschubstange blockieren, die ihrerseits wieder die Weichenhebel blockiert und damit die Weichen während der Zugfahrt festlegt.

Praktisch erfüllen manche dieser Konstruktionen (z.B. der Gruppenantrieb und der Neutralschieber) noch eine dritte Bedingung: Wenn eine der Fahrstraßenschubstangen verschoben ist, kann keine andere mehr verschoben werden. Es wird also eine "mechanische Exklusiv-Oder-Operation" konstruiert. Das ist manchmal hilfreich, um zusätzliche "besondere Verschlüsse" einzusparen.

Man kann dieses Problem auf nicht wenige Arten lösen. Ich zeige hier einmal eine, die in deutschen Einheitsstellwerken verwendet wurde, allerdings nicht für die Freigabe von Signalen (danke an ropix im Eisenbahnforum, der mich darauf hingewiesen hat – dort sieht man auch Bilder aus einem richtigen Einheitsstellwerk), sondern zum Verdrehen von Blockwellen, die andere Verschlussaufgaben wahrnehmen, nämlich den sogenannten Gruppenantrieb. Das Problem und die Lösung sind aber tatsächlich analog auch für Signale verwendbar (für eine Zeichnung des entsprechenden Gruppenverschlusses sowie auch des österreichischen Neutralschiebers habe ich noch keine Zeit gefunden – sie sind ein wenig komplizierter zu zeichnen). Danach zeige ich wieder einmal eine Sonntagsbastelei, die dasselbe Problem mit einer anderen Konstruktion löst.

Hier ist der Gruppenantrieb:


Links sieht man die Grundstellung. Hintereinander liegen die Fahrstraßenschubstangen (man sieht nur die vorderste blaue), darüber liegt (hier von vorne gesehen) die "Blockwelle", die (über eine Menge weitere mechanische Teile, die ich hier nicht erkläre) eine Blockeinrichtung freigibt. Rechts sieht man, was passiert, wenn die blaue Fahrstraßenschubstange nach rechts verschoben wird:
  • Der linke blaue "Zacken" hat über den Einschnitt (an den er gestoßen ist) die Blockwelle verdreht und damit die Blockeinrichtung freigegeben.
  • Wenn diese Blockeinrichtung die Blockwelle nun in der gezeigten Stellung blockiert, dann kann sich die "gefangene" Zacke weder nach links noch nach rechts bewegen – damit ist die Fahrstraßenschubstange blockiert.
  • Grün sieht man dahinter die Zacken einer weiteren Fahrstraßenschubstange. Zum ersten erkennt man, dass deren Zacken die Drehbewegung der Blockwelle nicht behindert haben.
  • Zweitens sieht man aber, dass auch diese Schubstange sich nun nicht mehr bewegen kann, weil ihre Zacken links und rechts an der schwarzen Sperrscheibe (eigentlich ist es eine weitere gleich geformte Scheibe, die dahinterliegt) anstoßen – damit haben wir das "exklusive Oder".
  • Beim Zurückstellen der blauen Fahrstraßenschubstange wird der Gruppenantrieb zwangsweise wieder zurückgedreht – er ist also nicht davon abhängig, dass eine Feder, die brechen könnte, die Welle zurückdreht (eine solche Feder oder eigentlich "Federzange" ist trotzdem vorgesehen, um die Welle in Grundstellung in der Mittellage zu halten, aber eigentlich ist der Gruppenantrieb vollständig zwangsgeführt. ropix sagt allerdings, dass das schöne Theorie ist und die Federzange auf jeden Fall nötig ist, damit sich das Ding sauber in die Grundstellung stellt; was man eigentlich auch an der Konstruktion oben vermuten kann: Denn ganz zum Schluss dreht der Zacken die Scheibe nicht mehr exakt in die Mittelstellung. Leider kenne ich die Konstruktion der deutschen Einheit nur aus Büchern, bin hier also zugestandenermaßen reiner Theoretiker).
Eigentlich ziemlich einfach, aber trotzdem irgendwie trickreich, oder(!)?

Um zu zeigen, dass man eine solche Mechanik auf mehr als eine Art konstruieren kann, habe ich eine weitere Konstruktion erfunden, die dasselbe leistet.

Das folgende Bild zeigt meine Konstruktion. Man sieht hier drei Fahrstraßenschieber, die der Reihe nach mit 3-4, 5 und 1-2 gekennzeichnet sind (ja, sie sind mir beim Zusammenbau ein wenig durcheinander gekommen ...). Dazwischen liegt der Neutralschieber, der mit N bezeichnet ist und das Signal freigeben soll:


Für Leute, die gern Mechaniken im Kopf durchspielen, habe ich hier die Konstruktion noch einmal etwas näher aufgenommen. Man sieht, dass
  • auf den Fahrstraßenschiebern senkrechte Bleche mit einer Art ausgeschnittener "Gabel" angebracht sind (man nennt sowas in der Mechanik "Kulisse" – hier haben wir also eine "gabelförmige Kulisse");
  • am Neutralschieber ein Blech mit einer schrägen Ausnehmung montiert ist (eine "schräge Kulisse");
  • quer durch alle die Bleche ein Stahldraht läuft, der an zwei Hebeln auf- und abwippen kann:


Wie funktioniert das ganze nun? Dazu habe ich drei Videos gedreht. Hier ist das erste, das zeigt, wie die Fahrstraße 3 eingelegt wird.
  • Man erkennt, dass die eine "Zinke" der gabelförmigen Kulisse am Fahrstraßenschieber 3-4 den Stahldraht nach oben hebt
  • und dass das Anheben des Stahldrahtes den Neutralschieber über die schräge Kulisse verschiebt.
  • Wenn der Neutralschieber nun festgehalten wird, dann kann sich der Fahrstraßenschieber nicht mehr zurückbewegen – denn dann müsste er den Stahldraht über seine Kulisse wieder nach unten drücken, was den Neutralschieber über dessen Kulisse zurückschieben müsste – das geht aber eben nicht, weil er festgehalten wird. Damit haben wir die Signalabhängigkeit erreicht.
  • Darüberhinaus steht der Stahldraht auch in den senkrechten Ausnehmungen der gabelförmigen Kulissen aller anderen Fahrstraßenschieber, sodass diese in ihrer Stellung festgehalten werden:



Sehen wir uns am nächsten Bild das Zurücklegen des Fahrstraßenschiebers an: Es setzt wie erwähnt voraus, dass das Signal zurückgestellt ist, sodass der Neutralschieber sich frei zurückbewegen kann:



Ich denke, die Bewegungsmöglichkeiten sind nun klar. Hier folgt nun ein Video, in dem jede der Fahrstraßen 3, 4, 1 und 2 je zweimal eingelegt und wieder zurückgestellt wird (die Fahrstraße 5 habe ich mir erspart – es ist wirklich immer dasselbe). Man erkennt, dass sich der Neutralschieber bei jeder Fahrstraße immer auf die gleiche Art bewegt:



Ich hoffe, damit sind das dahinterliegende Problem einerseits und mögliche Lösungen für das "mechanische Oder" andererseits halbwegs klargeworden!

4 Kommentare:

  1. Hallo Herr Müller

    Ihre 'Konstruktion' hat mir beim Anschauen viel Freude bereitet. Nur ist eine altes Fragezeichen bei mir wieder hochgekommen:

    Der Verschluss der 'feindlichen' Fahrstrassen hat eine Lücke: Werden zwei Schieber gleichzeitig parallel bewegt schliessen sich diese nicht aus. Das ist mir schonmal beim Studium von VES Unterlagen in Zusammenhang mit dem Neutralschieber aufgefallen. Daher frage ich mich, ob man damit wirklich 'besondere Verschlüsse' einsparen kann.

    Gruss Hanspeter Thöni

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    1. Ich habe bis heute keine detaillierten Projektierungsvorschriften zu so etwas gefunden - vieles davon ist wohl mündlich oder in Schulungen weitergegeben worden -, daher kann ich als Hobby-Sicherungsanlageninteressierter keine "in der Realität fundierte" Antwort auf diese Frage geben.

      Was ich mir aber denke: Beim Entwurf einer Sicherungsanlage muss man bestimmte "Bedrohungsszenarien" annehmen, also sich überlegen gegen welche Probleme die Sicherungsanlage "resistent" sein soll. I.d.R. haben sich alle solchen "Bedrohungen" entweder aus dem menschlichen oder dem technischen Versagen in Zusammenhang mit Unfällen ergeben, begonnen von der einfachen Signalabhängigkeit (gegen das unzeitige Umstellen von Weichen unter Stress) bis zu mehrfachen Prüfungen innerhalb der Anlagen (gegen technische Einfach- und teilweise auch Mehrfachfehler).

      Wie kann nun die "Bedrohung" "paralleles Verschieben Fahrstraßenschiebern" zustande kommen? - ich denke, nicht durch menschliches Versagen (denn man muss ziemlich kontrolliert und "mit viel Gefühl" zwei Knebel oder Fahrstraßenhebel parallel umlegen), und auch nicht durch technisches Versagen (mir fällt zumindest keines ein, das nicht aus anderen Gründen noch ärger wäre, wie etwa das Versagen eines Verschlussstückes).
      Außerdem wird dieses parallele Einlegen, wenn ich fest drüber nachdenke, keine zusätzliche Gefährdung hervorrufen, die nicht schon vorher da wäre (und damit widerspreche ich meinem Text oben - ich sage nämlich, dass niemand die zusätzlichen Fahrstraßenausschlüsse eingebaut hätte): Die beiden Fahrstraßen müssen ja gleiche Stellung aller Fahrwegelemente (Weichen) haben - es kann sich also z.B. um Ein- und Ausfahrt desselben Gleises handeln. Nun gibt es aber nur zwei Fälle: Wenn auf dem Gleis kein Zug steht, dann ist die gestellte Ausfahrt kein Problem - da fährt nichts; wenn dort aber ein Zug steht, dann hätte die Einfahrt sowieso nicht gestellt werden dürfen - und umgekehrt gilt das auch für das Streckengleis (wo eine technische Blocksicherung, wenn vorhanden, die Ausfahrt eh verhindert hätte ...).

      ... ich denke, ich sollte den Satz über die "Ersparnis der zusätzlichen Ausschlüsse" rauswerfen ...

      H.M.

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    2. Hallo,
      es geht doch um Fahrstraßen vom selben Signal aus in verschiedene Zielgleise. Die Weichen können nur für jeweils eine der Fahrstraßen richtig stehen und daher hat man auch keine Chance, zwei Fahrstraßenhebel synchron zu bewegen.
      Damit stimmt der "Ersparnis der zusätzlichen Ausschlüsse" wieder.
      Grüße
      Tom

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    3. So ist es ... was haben wir uns oben gedacht?? (bis auf extreme Sonderfälle wie zwei Fahrstraßen mit verschiedenen Durchrutschwegen auf dieselbe Weichenstellung ... siehe Piding.

      H.M.

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